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Photos: Maurice Weiss

BRAND EINS

Herrn Inces Lohn

Dursun Ince ist einer, der sich treiben lässt. Und doch immer wieder Anschluss sucht. Portrait eines Menschen, der sein Leben lang der Arbeit nachläuft.

In der Nacht, wenn die BlackBerrys schlafen, erinnert sein Wecker ihn daran, dass seine Zeit gekommen ist. Es klingt wie ein Hämmern, metallisch, monoton wie die Melodie seiner Tage. Er krümmt sich, er windet sich, aber er fügt sich. Das ist seine Geschichte, sein Leben in einem Satz.

Er rollt sich aus seinem Bett und schlüpft in eine blaue Arbeitshose und einen blauen Strickpullover, dann zieht er eine blaue Strickmütze über seinen Kopf. Er sieht aus wie ein Aral-Tankwart auf hoher See, Dursun Ince, sein Name ist eine andere Geschichte. Er schnürt seine Schuhe, an denen der Staub und der Schweiß der letzten Baustelle haften, und nimmt seine Arbeitshandschuhe, Modell „Work-on“, genäht in China. Er ist jetzt verfügbar, einsetzbar an jedem Ort, vielleicht auch im Land seiner Handschuhe.

In der Nacht, wenn die Tage des Lohns beginnen, verschiebt sich der Mittelpunkt seiner Welt von einer Wohnung in Berlin-Kreuzberg an das stille Ende Neuköllns, in den Raum, in dem sich entscheidet, ob er gebraucht wird. Das Glück entscheidet, und es kann kalt sein. Es kann Tage, die Lohn versprechen, in Tage des Wartens verwandeln, verlorene Tage.

Die Hoffnung, gebraucht zu werden, lässt Männer wie ihn in der Nacht durch die Stadt reisen, nicht wissend, was sie im Raum der Entscheidung erwartet. Ein Verlangen treibt diese Männer, sie wollen dazugehören, wenn die anderen aufwachen und ihre Plätze einnehmen in der Arbeitswelt. Sie suchen die Lücken in dieser Welt, sie wollen sie füllen, für einen Tag, ein paar Stunden, ein paar Scheine.

Ince ist ein Prototyp des modernen Tagelöhners, ein Mann, der sein Verhältnis zur Arbeit nach seinen Vorstellungen definiert. Die Tagelöhner der neuen Zeit sind anders als die Männer, die sich während der Großen Depression Schilder umbanden, auf denen sie um „Arbeit jeder Art“ bettelten. Sie sind keine hohläugigen Gestalten, getrieben von Angst. Sie müssen nicht jeden Tag arbeiten, sie müssen nicht jeden Job annehmen. Sie leiden nicht an der Knappheit ihres Geldes, sondern an der Armut ihrer Tage.

Wenn man Ince über anderthalb Jahre begleitet durch die Phasen des Tagelöhnerlebens und die Zeiten der Untätigkeit, fügt sich das Bild eines Mannes zusammen, der sich eingerichtet hat in seinem dünnen Jetzt. Er wird gehalten von einem Staat, der ihn nicht fallen lässt. Der Staat nennt das „Grundsicherung für Arbeitsuchende“; die Gesellschaft nennt es „Hartz IV“. Ince ist dankbar für dieses Geld, es trägt ihn durch die lohnlosen Tage.

Das Loch in seinem Leben ist die Unterversorgung mit Arbeit, das Fehlen einer Aufgabe. Er bricht, wie die meisten Tagelöhner, das Klischee vom Hartz-IV-Empfänger. Er wartet nicht auf Arbeit, er folgt ihr. Aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, dann lässt er los. Das ist das Tagelöhnersyndrom. Sie sind bindungsunfähig. Sie wollen dazugehören, aber sie versuchen nicht, den Bruch zwischen sich und der Arbeitswelt zu reparieren. Sie spezialisieren sich auf die Lücke.

In seiner Wohnung in Kreuzberg schließt Ince die Tür hinter sich und lässt seine Frau und vier Kinder zurück. Um 3.59 Uhr steigt er am Schlesischen Tor in die erste U-Bahn des Tages, er muss sie erreichen. Die Jobs werden um 4.30 Uhr vergeben, nicht eine Minute später. Ince reist durch die Arbeitswelt wie mit dieser U-Bahn: Er fährt ein Stück mit, dann steigt er wieder aus.

Ince fing viel an und brach viel ab, so verlaufen Tagelöhnerleben. Es ist schwierig, sie auf ein Blatt zu schreiben und sich mit ihnen zu bewerben. Sein Name klingt nach Migrationshintergrund und anderen hilflosen Begriffen für das neue Deutschland, doch er ist nur eine türkische Chiffre für eine deutsche Geschichte. Sie kamen nie wirklich zusammen, Ince und die Arbeitswelt, das verbindet ihn mit den deutschen Tagelöhnern. Sie sind Fremde in ihrem Land.

Der Raum der Entscheidung liegt am Ende der Sonnenallee, in einer Gegend Neuköllns, die aussieht wie ein aufgeblähtes Spielzeugland. Auf seinem Weg geht Ince vorbei an der Spielhalle „Glücksoase“, der Kneipe „Koma“ und dem Hotel Estrel, das wie ein Kreuzfahrtschiff am Ufer des Neuköllner Kanals liegt. Zwischen der Wurstbude „Curry-Sonne“ und der Kleingartenkolonie „Steinreich“ bleibt er vor einem großen dunklen Klotz stehen, an dessen Fassade in weißen Buchstaben das Wort schimmert, das ihn lockt: Arbeit.

Die Agentur für Arbeit Berlin-Süd ist die Kaaba der Tagelöhner, der Mittelpunkt ihrer Welt. Sie pilgern aus allen Winkeln der Stadt zu dem Klotz und stellen sich vor dem Hintereingang auf. Sie bilden keine Reihe, sie positionieren sich nicht. Das Glück entscheidet. Sie nehmen die Haltung der Tagelöhner ein. Sie stehen bereit und warten.

Das Gebäude, in dem sie nach Arbeit suchen, hat die Architektur der Behörde, die sie vermitteln soll, wuchtig, verschachtelt, in den Korridoren verliert man sich. In den ersten Stunden des Tages sind nur drei Fenster im Erdgeschoss erleuchtet. Hinter einem sitzt Thomas Schröder. Er ist der Mann, der die Tagelöhner zu den Lücken in der Arbeitswelt führt.
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Ein Verlangen treibt diese Männer. Sie leiden nicht an der Knappheit ihres Geldes, sondern an der Armut ihrer Tage.

Um halb vier, wenn Ince seine Wohnung verlässt, fährt Schröder in seinem Büro die Systeme hoch. Er schaltet den Computer ein, das Radio, die Kaffeemaschine. Dann setzt er sich an seinen Schreibtisch, hört den Anrufbeantworter ab und liest E-Mails. Die Lücken in der Arbeitswelt öffnen sich oft außerhalb seiner Arbeitszeit. Wenn auf einer Baustelle jemand fehlt, der die Wände einreißt. Wenn bei einem Umzug jemand fehlt, der die Waschmaschine trägt. Wenn in einem Schlachthof jemand fehlt, der die Klingen abwischt.

Tagelöhner sind leicht zu orten, man findet sie in Räumen, in denen es sehr kalt ist oder sehr heiß, sehr staubig oder sehr feucht. Und immer im Dreck. Sie arbeiten mit ihren Händen, mit denen erledigen sie klar definierte, nicht zu komplexe Aufgaben. Sie sind die Träger und Bücker der Arbeitswelt, der wichtigste Teil ihrer Anatomie ist ihr Rückgrat. Vielleicht sind deshalb so viele von ihnen Gebrochene.

An diesem Morgen kann Schröder zwei Männern ein außergewöhnliches Angebot machen. Eine Baufirma sucht zwei Helfer, die einen Nadelfilzboden herausreißen sollen. Sie bietet zehn Euro für jede Stunde, drei Tage lang. Ein Tagelöhnertraum. Die Firma beschreibt die Aufgabe als „Arbeit in ungünstiger Körperhaltung“. Schröder ahnt, was die Männer erwartet. „Die werden irgendwann nicht mehr hochkommen“, sagt er. „Die müssen dann mit dem Filzboden rausgerollt werden.“

Die Firma hat einen Wunsch. Sie bittet Schröder, nicht nur auf „Belastbarkeit“ zu achten, sondern auch auf eine „gepflegte Erscheinung“. Schröder versteht das, er kennt die Erscheinungen der Tagelöhner. Er fährt mit einem gelben Textmarker über den Wunsch, dann geht er zu der Tür, hinter der die Männer in Dunkelheit warten. „So“, sagt Schröder und rasselt mit seinem Schlüsselbund, „Raubtierfütterung!“

Die Männer drücken ihre Zigaretten aus und gehen ins Licht. Der Raum der Entscheidung ist ein Rechteck mit sieben Reihen der hellblauen, auf Stangen montierten Schalensitze, die fast überall in den Arbeitsagenturen stehen — das Corporate Design des reformierten Sozialstaats. Die Männer blicken alle in dieselbe Richtung. Auf das Loch in der Wand.

Hinter dem Loch sitzt Schröder. Wenn er eine Nachricht hat für die Männer auf der anderen Seite, öffnet er eine schwarze Luke und zeigt kurz sein Gesicht. Ein kleiner Karton steht vor der Luke, die Männer ziehen an ihm vorbei und legen Karten hinein, auf denen ihre Namen stehen. Dann setzen sie sich und warten auf den Moment.

Der Moment kommt jeden Morgen um halb fünf, wenn Schröder im Loch erscheint. Er greift nach dem Karton, nimmt die Karten heraus und mischt sie. Die Männer verstummen und starren auf Schröders Hände, einige erheben sich. Schröder mischt noch einmal, dann legt er die Karten wie ein Patience-Spieler nebeneinander. In dieser Reihenfolge wird er die Jobs vergeben. Wenn er Jobs hat.

Schröder verkündet die Reihenfolge, und die Männer, die ihre Namen als letzte hören, nehmen ihre Karten und gehen. Schröder hat noch nicht gesagt, wie viele Jobs er anbieten kann, doch die Männer wissen, dass es selten mehr sind als zwei oder drei. Vor Schröder liegen 17 Karten.

Er betrachtet die Karten und überlegt, dann bittet er die Männer, die ihm belastbar und gepflegt erscheinen, in sein Büro. Er muss jetzt vorsichtig sein. Er überstimmt das Glück, und an der Stelle sind die Männer empfindlich, besonders die mit ungepflegter Erscheinung.

Herr Zimmermann will keinen Nadelfilzboden herausreißen. Er sagt, er habe das schon einmal gemacht und danach tagelang nicht aufrecht gehen können. Der nächste Kandidat sagt, es sei zu viel Geld.

Das ist das Dilemma der Tagelöhner, zu viel Geld. Sie sind in den Augen des Sozialstaats Empfänger, und wenn Arbeitslose arbeiten, verwirrt das den Staat, es macht ihn misstrauisch. Er befürchtet, sie könnten zu viel empfangen. Der Staat kennt keine Tagelöhner, er kennt nur Arbeitslosengeld I und II. Tagelöhner sind Empfänger der zweiten Klasse, für ihre „bedarfsorientierte Grundversorgung“ errechnete der Staat 359 Euro im Monat. Wenn sie zu viel arbeiten und mehr als 100 Euro im Monat verdienen, zieht der Staat einen großen Teil ihres Lohns von ihrem Arbeitslosengeld ab.

Wenn Tagelöhner die 100-Euro-Grenze überschreiten, betreten sie das Land der Anrechnung. Je mehr sie arbeiten, je mehr sie verdienen, desto mehr wird ihnen angerechnet. Es ist ein trügerisches Wort, anrechnen. Es klingt nach Anerkennung, doch für Tagelöhner ist es ein anderes Wort für Verlust. Von jedem Euro, den sie jenseits der 100-Euro-Grenze verdienen, bleiben ihnen 20 Cent. Und wenn sie die 800-Euro-Grenze überschreiten, dürfen sie von jedem Euro nur 10 Cent behalten.

Das ist der Spagat des Sozialstaats, der Versuch, Arbeitslosen das Arbeiten nicht zu verbieten und gleichzeitig den Staat vor Ausbeutung zu schützen. Es ist schwierig, Gerechtigkeit in Formeln zu pressen.

Die meisten Tagelöhner verschwinden aus dem Raum der Entscheidung, wenn sie die 100-Euro-Grenze erreichen. Sie ziehen sich in ihre Wohnungen zurück und warten auf das Ende des Monats, wenn sie wieder zu Empfängern werden. Einige aber arbeiten weiter. Weil sie das Geld sofort brauchen. Weil sie die Leere zu Hause nicht aushalten.

Schröder, der Jobverteiler, kann das System nicht ändern, er kann nur versuchen, es zu vermitteln. Er kennt die Ungeduld der Tagelöhner, ihre Kurzsichtigkeit im Umgang mit Geld. Das ist ihre schwache Stelle, dort setzt er an bei dem Kandidaten, der sagt, es sei zu viel Geld.

„Sie wollen das Geld doch bestimmt lieber am Ende des Tages bar auf die Hand bekommen, als bis zum Monatsende zu warten“, sagt Schröder.
„Will ick aber nich“, sagt der Mann.
„Tja“, sagt Schröder, „das ist die Problematik.“

Die Problematik ist Inces Chance. Er ist der dritte Mann auf Schröders Liste. Er hört sich das Angebot an, dann stehen die beiden sich schweigend gegenüber.

„Und?“, fragt Schröder nach einer Weile.

Ince versteht die Frage nicht. Er versteht nicht, dass er jetzt Nein sagen dürfte. Er sieht Schröder an, als wollte er fragen: Bin ich mitten in der Nacht aufgestanden, um Arbeit abzulehnen?
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Ince reist durch die Arbeitswelt wie mit der U-Bahn: Er fährt ein Stück mit, dann steigt er wieder aus.

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Dursun Ince, Vermittlungsvorschlag 2071, Steuerklasse 3, hat jetzt drei Tage lang Arbeit. In Schröders Akte steht eine unvollständige Liste der Stationen auf Inces Weg durch die Arbeitswelt. Kraftfahrzeugmechaniker, Verpacker, Verkäufer, Küchenhilfe, Lagerverwalter, Berufskraftfahrer, Kunststoffverarbeiter. Nadelfilzbodenherausreißer passt gut in die Reihe.

Schröder kümmert sich jetzt um die Details, er ist der persönliche Referent der Tagelöhner. Er kopiert Inces Lohnsteuerkarte und Sozialversicherungsausweis und heftet sie an die „Bescheinigung über Nebeneinkünfte nach §313 des Dritten Buches SGB II“. Dann kopiert er einen Ausschnitt des Stadtplans, markiert den Ort, an dem Arbeit auf Ince wartet, und erklärt ihm, welche U-Bahn er am besten nimmt. Wenn das Dritte Buch des Sozialgesetzbuches II es verlangte, würde Schröder ihm auch Pausenbrote schmieren.

Das ist der Reiz des Tagelöhnerlebens. Die Männer müssen keine Stellenangebote lesen, sie müssen sich nicht bewerben. Sie müssen nur in den Raum der Entscheidung kommen und Glück haben.

Der andere Nadelfilzbodenherausreißer ist Thomas Menzel. Er ist heute zum ersten Mal gekommen, und eine Stunde später geht er mit einer Adresse und dem Versprechen von drei Tagen Arbeit. Er sieht nicht so aus, als empfinde er das als Glück.

Um halb sieben treffen sich Ince und Menzel in einer U-Bahnstation in Wedding. Sie gehen in eine ehemalige Fabrikhalle, auf deren Dach weiße Satellitenschüsseln leuchten, dann stehen sie im Foyer der Deutschen Welle. An der Rezeption erwartet sie Bernd Buchwalder, er ist der Mann, für den sie den Filzboden herausreißen sollen. Sie tragen sich in die Gästeliste ein und klemmen sich Besucherausweise an die Brust. „Wir haben uns hier sehr zurückhaltend zu verhalten“, sagt Buchwalder. „Aus dem Weg gehen. Sauber sein. Jeder Krümel wird sofort nach oben getragen.“ Er meint die Chefetage.

Raum 125 ist 101,87 Quadratmeter groß und ausgelegt mit dem Fundament deutscher Bürokultur, grauem Filzboden. Ince und Menzel zücken Teppichmesser und gehen auf die Knie. Sie schlitzen den Boden auf, dann nehmen sie einen Hammer und rammen einen Meißel zwischen Teppich und Boden, sie suchen einen Angriffspunkt. Sie ziehen am Teppich, doch er rutscht ihnen aus den Händen, immer wieder. Sie nehmen Zangen, doch der Teppich scheint untrennbar mit dem Boden verbunden. „Alter Schwede!“, ruft Menzel und wirft seine Zange weg. Er legt den Kopf in den Nacken und geht eine Runde im Kreis. „Die anderen wussten, warum sie nicht wollten.“

Ince schweigt.

Sie gehen zurück auf die Knie und ziehen den Filzboden in Zeitlupe ab, Zentimeter um Zentimeter, als häuteten sie ein Tier. Sie klammern sich an den Teppich, sie zerren, ihre Gesichter glimmen. Sie stemmen sich gegen den Widerstand, sie stehen schräg in ihren Schuhen. Und dann reißt der Teppich, und sie fallen um wie Erschossene.

Ince ist besser ausgerüstet als Menzel, er hat Arbeitshandschuhe und ein Taschentuch, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn wischt. Menzel hat nackte Hände und eine leicht entflammbare Wut. Wenn Ince sieht, wie sein Gesicht sich rötet, wenn er hört, wie er schnaubt, immer zorniger, reicht er ihm seine Wasserflasche und sagt: „Mach mal ’ne Pause.“

Der Filzboden in Raum 125 ist wie eine Bühne, auf der Ince und Menzel ein Kammerspiel der neuen alten Arbeitswelt aufführen. Lange bevor sie sich hier krümmten, schraubten Arbeiter der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft in diesen Hallen Lokomotiven zusammen. In Raum 125 verbinden sich die Stränge verschiedener Epochen der Arbeit, es ist ein passender Ort für eine Geschichte über moderne Tagelöhner. Sie knien auf dem Boden der Redaktion „Deutschland heute“.

Sie sind ein unpassendes Paar, Ince und Menzel. In der Frühstückspause, als sie trocknen, tasten sie das Leben des anderen ab. Ince wurde vor 45 Jahren in der Nähe der Stadt Erzincan geboren. „Ich komme aus Anatolien“, sagt er. Es klingt wie eine Entschuldigung. Menzel wurde vor 39 Jahren in Berlin geboren. „Ich komme aus Neukölln“, sagt er. Es klingt wie ein Vorwurf. Er sieht Ince an und überlegt einen Moment. „Ich habe nichts gegen Ausländer“, sagt er dann, „aber die schmeißen ihren Müll aus dem Fenster.“ Ince nippt an seinem Tee und schweigt. Er kann das sehr gut, schweigen.

Auf dem Filzboden, im Kampf mit der deutschen Wertarbeit, ergänzen sie sich gut, der stille Türke und der zornige Deutsche. Es hilft, dass Menzel sieht, wie Ince seine Brottüte in den Müllsack wirft.

Als Buchwalder das Zeichen zur Mittagspause gibt, eilt Menzel zur Tür, als wolle er flüchten. Ince geht ziellos die Straße entlang und bleibt zwischen zwei Imbissläden stehen, einem türkischen und einem deutschen. Er blickt durch die Scheiben, er zögert, dann betritt er den türkischen Laden. Er bestellt einen Döner und nimmt den Tisch hinten links, zwischen den Spielautomaten und dem Wandgemälde einer Moschee. Er sitzt irgendwo zwischen Berlin und Anatolien.

Er bekommt einen entfernten Blick, wenn er sich an seine Kindheit erinnert, an die Jahre, in denen er mit seinem Vater Schafe hütete in den Bergen Anatoliens. Er vermisst die Weite der Felder, ihre Stille. Er würde gern zurückkehren in in das Land seiner Sehnsucht, nach Schleswig-Holstein. Ince war 14, als der Vater die Familie nach Deutschland brachte, in das Land der Arbeit. Sie landeten in Talkau, in der Nähe von Mölln, dort fand der Vater Arbeit auf einem Bauernhof. Er war der Knecht, der alles machte.

Der Gutsherr starb irgendwann in seinen Stiefeln, und Inces Familie zog weiter. Manchmal schreibt die Witwe ihm Briefe und fragt, ob er nicht zurückkommen wolle. Ince würde morgen gehen, aber seine Frau will nicht. Sie fürchtet die Einsamkeit der Provinz, und Ince widerspricht ihr nicht. Er kann das nicht gut.

Wenn im Fenster die ersten Lichter des Berufsverkehrs vorbeiziehen, beginnen die Zurückgebliebenen im Raum der Entscheidung ihr Beschäftigungsprogramm. Sie sitzen auf den Stangen und überlegen, ob sie nach Norwegen auswandern. Sie fragen sich, was im Koran steht. Sie hören den Klang der Absätze der Sachbearbeiterinnen auf dem Gang und stellen sich vor, wie sie die Hüften dazu bewegen. Sie rufen ihre Handys an und tanzen zu den Klingeltönen.

Einer der Männer setzt sich nie hin. Er schlurft wie ein Schlafwandler durch den Raum und untersucht die Scharniere der Türen, die Lichtschalter, die Steckdosen, das Heizungsventil. Er rüttelt an allem, als suche er etwas, das er reparieren könnte. Der Raum wirkt therapeutisch in diesen Momenten.

In Raum 125, auf dem Boden der Redaktion „Deutschland heute“, legt Ince die Hände auf seinen Bauch. Er hat den Döner nicht vertragen. Schweiß rinnt an seinem Hals hinab, er ist ausgelaugt, doch er lässt nicht los. Er zerrt an dem Filzboden, als wehre er sich gegen seinen Namen. Wenn man ihn fragt, was Dursun bedeutet, lächelt er und sagt: „Lass es liegen.“
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„Wir haben uns hier sehr zurückhaltend zu verhalten“, sagt der Chef. „Aus dem Weg gehen. Sauber sein.“

Ince ist ein Mann mit unscharfen Konturen, alles ist rundlich an ihm. Sein Körper passt zu einem, der schwer greifbar ist. Er bewegt sich unauffällig, bescheiden im Auftritt und immerzu zögernd, entschlossen nur in seinem Willen, sich nicht festzulegen.

Am nächsten Morgen, als Ince das Foyer der Deutschen Welle betritt und sich in die Besucherliste einträgt, steht Menzels Name schon dort. In die Spalte für den Namen der Firma schrieb Menzel „Jobcenter“. Ince trägt den Namen von Buchwalders Firma ein. Er will dazugehören.

Sie sind heute besser ausgerüstet. Menzel trägt Arbeitshandschuhe, Baustellenschuhe und ein frisches weißes T-Shirt, und Buchwalder hat Krallengriffe besorgt, mit denen ihnen der Filzboden nicht aus den Händen rutscht. Doch das Buckeln des ersten Tages zehrt an ihnen, ihre Bewegungen sind langsamer, steifer. Nach einer halben Stunde blickt Menzel sich um, beugt sich zu Ince herüber und fragt: „Machen wir Pause?“

„Mach ruhig“, sagt Ince und arbeitet weiter.

Menzel sieht ihn an, als würde er ihm gern ins Gesicht spucken. Er stürzt sich anfallartig auf den Filzboden, er reißt an ihm, als sei es ein Kampf, den er in den ersten Sekunden gewinnen muss. Ince hat den unverbisseneren Blick und den gleichmäßigeren Rhythmus, und niemals beklagt er sich. Er ist der bessere Deutsche.

Menzel blickt sich jetzt häufiger um. Er wird still. Er lauert. Irgendwann nach der Frühstückspause zieht er seine Jacke an und sagt: „Bin gleich wieder da.“

Es dauert eine Weile, bis Ince begreift, dass Menzel abgehauen ist. Eine Zeit lang macht er sich Sorgen um ihn, doch er arbeitet weiter, als wäre nichts passiert. Buchwalder gefällt das. Er beobachtet, wie Ince den Filzboden verschwinden lässt, leise und ohne Zorn. Am Ende des Tages kniet er sich neben ihn und sagt: „Wir müssen mal über Ihre Zukunft reden.“

Ince sieht ihn an, als mache ihm dieses Wort Angst. Zukunft. Es klingt nach etwas, das zu groß für ihn sein könnte, ein endloser Nadelfilzboden. „Sie haben ja Durchhaltevermögen bewiesen“, sagt Buchwalder. „Können Sie sich denn vorstellen, fest für mich zu arbeiten?“ Ince sieht auf seine Schuhe und schweigt. Und dann sagt er, was er oft sagt in Momenten, in denen er sich entscheiden muss. Er sagt: „Na ja.“

Buchwalder baut ihm eine Brücke und fragt, was er vor seinem Leben als Tagelöhner gemacht hat. Ince erzählt, dass er eine Lehre zum Mechaniker bei Mercedes-Benz begann, sie aber nicht abschloss. Buchwalder nickt und wartet. Auf die Antwort auf seine erste Frage. Doch Ince steht verloren in der Stille. Buchwalder gibt auf und drückt ihm einen 100-Euro-Schein in die Hand, den Lohn des Tages.

Tagelöhner leben in einem Widerspruch. Sie stellen sich zur Verfügung, aber sie wollen nicht verfügbar sein. Sie wollen zur arbeitenden Gesellschaft gehören, aber sie wollen die Unverbindlichkeit ihres Lebens nicht aufgeben. Die Freiheit, jeden Morgen zu entscheiden, ob sie arbeiten oder nicht. Die Freiheit, den einen Job anzunehmen und den anderen abzulehnen. Es geht ihnen nicht so schlecht, dass sie gezwungen wären, mit ihrem Tagelöhnerleben zu brechen.

Es gibt einen Konstruktionsfehler in der Welt der Tagelöhner. Sie machen die schwerste, schmutzigste Arbeit, aber die Leistungsfähigsten, Belastbarsten betreten diese Welt nicht. Die meisten Tagelöhner sind über 40, viele über 50, manche über 60. Die Jüngeren, sagt Schröder, haben keine Lust, nachts um drei aufzustehen. „Da kommen die ja in der Regel erst nach Hause.“ Es ist das Glück der Älteren, doch sie bezahlen dafür. Sie betreten den Raum jeden Morgen ein bisschen erschöpfter. Schröder sieht es an ihrem Gang, er hört es in ihren Stimmen. „Manche“, sagt er, „sind irgendwie verbraucht.“

Arbeitslosigkeit ist seit 1982 Schröders Arbeit, damals war die Agentur noch eine Anstalt. Sein Titel verbindet die Sperrigkeit der alten Zeit mit dem Sound der neuen, er nennt sich „Fachassistent in der Jobvermittlung im Jobcenter“. Das Neusprech der Agentur ist mehr als eine Hülle. Es reflektiert den Wandel in der Arbeitswelt, die Entkopplung der Arbeit vom Beruf, das Ende der „Stelle“ als permanenter Ort. Aus Arbeit, die der Duden als „köperliche oder geistige Betätigung“ definiert, wird ein Job, eine „Gelegenheit zum Geldverdienen“.

Schröder sitzt in seinem Büro wie im Vorzimmer der neuen Arbeitswelt. Er ist ein Leiharbeiter, er gehört eigentlich zur Agentur für Arbeit, die sich um die noch nicht verlorenen Fälle kümmert, die Empfänger von Arbeitslosengeld I. Aber seitdem der Staat nicht mehr unterscheidet zwischen Arbeitslosen und Sozialhilfebedürftigen, hilft Schröder im Jobcenter aus, dem Sammelbecken für die hoffnungslosen Fälle, die Empfänger von Arbeitslosengeld II. Es hat seinen Blick verändert, sein Gefühl für das Machbare. „Ich bin froh“, sagt Schröder, „wenn ich mittags nach Hause gehen und sagen kann: Heute habe ich einen glücklich gemacht.“

Für die meisten Tagelöhner ist Schröder ein Schwein, das Gesicht eines Staates, vor dem sie den Respekt verloren haben. Sie sehen nicht, was der Staat für sie tut. Sie sehen nur, dass der Staat Fragen stellt, dass er Rechenschaft verlangt. Dass er dem Papier mehr glaubt als ihrem Wort. Schröder, der Erfüllungsgehilfe des Glücks, ist für sie ein Instrument. Sie benutzen ihn.

Um halb sechs betritt ein Fremder den Raum. Er hat sein Resthaar sorgfältig nach hinten gekämmt und im Nacken auf Linie geschnitten, unter dem Arm hält er ein Klemmbrett. Er trägt sandfarbene Leinenschuhe mit weißer Sohle und eine Brille mit schmalen Gläsern, die er mit der Handbewegung des Belesenen auf die Stirn schiebt. Er sieht aus wie ein Oberarzt auf dem Weg zur Visite.

„Die Spätschicht!“, ruft jemand.

Der Fremde zuckt kurz zusammen, dann setzt er sich in eine der hinteren Reihen und schlägt ein kleines Buch auf. Es trägt den Titel „Zeitmanagement“. Er legt das Klemmbrett auf seine Oberschenkel und zeichnet Tabellen und Kurven auf kariertes Papier, vielleicht sucht er nach der verlorenen Zeit. Manchmal hebt er den Kopf und betrachtet die Männer um ihn herum wie Figuren, die er zu entschlüsseln versucht. Er ist ein Architekt ohne Arbeit. Er geht irgendwann und kommt nie wieder.

Am Morgen des dritten Tages taucht Menzel wieder bei der Deutschen Welle auf. Er will seinen Lohn. Er rechnet Buchwalder mit buchhalterischer Akribie vor, dass er dreieinhalb Stunden arbeitete, bevor er verschwand. Dass er Ince im Stich ließ und einem anderen Tagelöhner den Platz wegnahm, fließt in seine Rechnung nicht ein. Buchwalder will keinen Kampf. Er gibt ihm 35 Euro und fragt, warum er abgehauen ist. „Weil es ein Scheißjob ist“, sagt Menzel. Dann äfft er Buchwalder nach und geht zur Tür, dreht sich zu Ince und sagt: „Schönen Tag noch.“

Ince schweigt. Er hat einen neuen Partner auf dem Filzboden. Neben ihm kniet Norbert Linke, 39 Jahre alt, erweiterter Hauptschulabschluss, abgebrochene Lehre bei Beiersdorf, Verträge bei Zeitarbeitsfirmen, Endkontrolle am Fließband, Flugabfertiger in Tempelhof, eine Freundin mit Krebs in der Zunge, die Prognose ist dunkel. „Ich muss raus“, sagt Linke, „ich werd’ verrückt zu Hause.“

Um viertel nach zehn nähert sich Buchwalder, und Ince und Linke sehen ihn wissend an. Sie knien auf einer Filzbodeninsel, auf der kaum noch Platz ist für sie. „Ich hab’ hier nichts mehr“, sagt Buchwalder. Das ist der Schlusssatz des Tagelöhners. Er bezahlt sie bis elf und fragt Ince nach dessen Telefonnummer. Die von Linke interessiert ihn nicht.

Ince macht ein Gesicht wie nach einer Niederlage. Er sah, wie der Filzboden unter ihm verschwand, aber er dachte, es würde irgendwie weitergehen, wenigstens bis zum Ende des Tages. So träumen Tagelöhner, auf Sichtweite. Er reißt mit Linke das letzte Filzstück vom Boden, dann fahren sie mit dem Aufzug hinunter zur Empfangsdame und geben ihre Besucherausweise ab, zwei Gastarbeiter in Deutschland.

Sie gehen zurück auf Null. Linke holt sich im Supermarkt das Pfand für die leeren Flaschen, die er in den letzten Minuten auf der Baustelle hektisch einsammelte. 1,25 Euro. Das ist seine Bonuszahlung, der Wert von 7 Minuten und 30 Sekunden Arbeit in ungünstiger Körperhaltung. Ince geht nach Hause. Dort sitzt er vor der Furnierschrankwand, in der die Bilder seines Lebens stehen, und guckt mit seinen Kindern das Nachmittagsprogramm von RTL 2. „Wenn ich Pause mache“, sagt er, „fehlt mir was.“

Ince glaubt, dass der deutsche Sozialstaat gut für ihn sorgt. Der Staat gibt ihm Geld für ein Leben ohne Arbeit, für die Miete, für die Kinder, für den Strom. Ince versteht nicht, warum manche Familien mit dem Geld nicht auskommen. „Geht doch“, sagt er.

Ince wäre gern Deutscher geworden. Vor ein paar Jahren bemühte er sich um die Staatsbürgerschaft, doch ihm fehlte die Geduld für den Prozess. Er trieb über die Flure der Bürokratie wie durch die Arbeitswelt. Irgendwann ließ er los.

Einmal wollte er Deutschland verlassen. Er las in der Zeitung eine Stellenanzeige, in Kanada suchten sie Holzfäller. Ihm gefiel der Gedanke, in der Stille des Waldes zu arbeiten. Er rief an, und sie wollten ihn haben. Aber er ging nicht. Er hängt fest im „Na ja“.
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Ince wäre gern Deutscher geworden. Vor ein paar Jahren bemühte er sich um die Staatsbürgerschaft, doch ihm fehlte die Geduld für den Prozess.

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In seinem Büro in der Sonnenallee greift Schröder zum Telefon und ruft ein paar Firmen an, die bei ihm regelmäßig Tagelöhner bestellen. Er fragt sie nach ihren Erfahrungen, ihren Wünschen. „Die wollen auch mal gestreichelt werden“, sagt Schröder. Dann ruft er Firmen an, von denen er glaubt, sie könnten Interesse an seinen Männern haben. Manche sind überrascht, dass es soetwas noch gibt, Tagelöhner. Andere verstehen es als Einladung zur Ausbeutung. Sie glauben, sie könnten die Männer mit drei Euro Stundenlohn abspeisen. „Die denken, das sei hier das letzte Pack“, sagt Schröder. Manchmal klingt er wie der Anwalt der Tagelöhner.

Arbeit war für Ince immer etwas, dem man nachläuft, von Anatolien nach Schleswig-Holstein, von Kreuzberg nach Neukölln. Der Gedanke, dass Arbeit auf ihn warten könnte, ist ihm fremd. Er ist ein Mann der vier Jahreszeiten, für jede sucht er sich den passenden Job.

Im vergangenen Sommer arbeitet er für eine Baufirma. Er soll zwei Wochen lang bei Abrissarbeiten helfen, eine Festanstellung in der Zeitrechnung der Tagelöhner. Er fährt Schutt mit einer Schubkarre zum Container, zuverlässig und still. Doch am dritten Tag macht er einen Fehler. An dem Container löst sich eine Ladeklappe und schlägt auf seinen Oberschenkel. Er arbeitet weiter, er will den Job nicht verlieren, aber er kann bald nicht mehr gehen. Ince entschuldigt sich und fährt ins Krankenhaus.

Es dauert eine Woche, bis er sein Bein wieder bewegen kann, und er beschließt, nicht mehr auf Baustellen zu arbeiten. Er hat Angst, dass er beim nächsten Unfall weniger Glück haben könnte. Dass es ihn irgendwann treffen könnte wie den Tagelöhner, den er in eine Starkstromleitung greifen sah.

Im Herbst geht Ince einen neuen Weg. Er legt sich fest, ein bisschen. Er nimmt einen Mini-Job als Verkehrsschildreiniger an und bringt Ordnung in den deutschen Schilderwald, zieht Aufkleber ab, entfernt Graffiti, 12,5 Stunden die Woche, 400 Euro im Monat. Es ist seine Reaktion auf die Finanzkrise. Auf dem Arbeitsmarkt schließen sich die Lücken, es wird eng für Tagelöhner in den Zeiten der Insolvenz. Das Verkehrsschildreinigerleben ist sein Versuch, systemrelevant zu bleiben.

Im Winter erweitert Ince sein Portfolio. Er wird Mitglied der schnellen Eingreiftruppe der Berliner Stadtreinigung. Er fegt Laub, schippt Schnee, streut Salz, wann immer das Wetter Lücken in die Personaldecke der Stadtreinigung reißt. Er hat Glück, es ist ein langer, eisiger Winter.

Ince spürt, dass sein Körper ein schwindendes Kapital ist, und er beginnt, wie ein Unternehmer zu denken. Er stellt sich breiter auf. Mit einem Gabelstaplerführerschein will er sich Zugang zu den Schnittstellen der globalisierten Welt verschaffen. Er glaubt, es könnte ein Ausweg aus der Bauschutt- und Filzbodenwelt sein.

Er fühlt sich gefangen im Takt des Tagelöhnerlebens, in der Enge der Stadt, und eines Morgens bricht er aus. Nach einer Nacht, in der er schwach wurde und wieder auf einer Baustelle arbeitete, nimmt er seinen Lohn und kauft eine Fahrkarte nach Schleswig-Holstein. Er steigt in den Zug und fährt in seine Vergangenheit, zu dem Bauernhof, auf dem sein Vater der Knecht war. Die Briefe der einsamen Witwe lassen Ince nicht los. Er will für sie arbeiten, doch er kommt zu spät. Die Witwe hat andere Männer gefunden. Einen Tag lang ist er verschwunden, abgetaucht in seinem Traum vom Leben. In der Nacht kommt er zurück nach Berlin, desillusioniert, verloren in der Stadt. Ein Bauer ohne Land.

Im Frühling zerfällt Inces Leben. Er wird schmaler in der Krise, er isst wenig und trinkt kein Bier, seine Leberwerte sind schlecht. Ince war lange nicht mehr bei Schröder. Er will das nicht mehr, das Aufstehen mitten in der Nacht, das Kartenlegen im Raum der Entscheidung.

Am Tag der Arbeit sitzt er in seinem Wohnzimmer, als hätte ihn dort jemand vergessen. Es gibt nicht mehr viel in diesem Zimmer. Ein Sofa, einen Tisch, einen Fernseher und ihn. Die Schrankwand, in der die Bilder seines Lebens standen, ist verschwunden. „Hat meine Frau weggeschmissen“, sagt er und blickt auf die kahle Wand. Seine Frau ist noch bei ihm, aber er sitzt da wie in einem Bild von der Leere in seinem Leben.

Er hat die Tapete von den Wänden gerissen und den Teppich vom Boden gezogen, er wird sein eigener Tagelöhner. Im Flur hat er einen neuen Laminatboden verlegt, doch er muss ihn wieder herausreißen. Er bat den Vermieter nicht um Erlaubnis. Ince sitzt vor dem Fernseher wie vor einem Kaminfeuer, an dem er sich wärmt. Auf dem Tisch liegt ein „Wachtturm“-Heftchen der Zeugen Jehovas mit dem Titel „Die christliche Wiedergeburt: Der Weg zur Rettung?“ Es ist eine merkwürdige Lektüre für einen Alewiten.
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Arbeit war für Ince immer etwas, dem man nachläuft – von Anatolien nach Schleswig-Holstein, von Kreuzberg nach Neukölln.

Er wird immer schwerer erreichbar, er zieht sich immer weiter zurück, doch für ihn sieht es so aus, als entfernten sich alle von ihm. Die Witwe schreibt ihm nicht mehr. Ein Brief, den er ihr schickte, kam als unzustellbar zurück. Er glaubt, dass sie tot ist. Auch Schröder ist fort. Als Ince nach langer Zeit wieder den Raum der Entscheidung betritt, mischt dort ein anderer Mann die Karten. Aber es ist Zeitverschwendung, er hat keine Jobs.

Die anschwellende Arbeitslosigkeit folgt der Krise wie ein Nachbeben, und die Kurzarbeitsorgie dichtet die letzten Lücken in der Arbeitswelt ab. Es verändert alles im Raum, die Zahlen, die Gesichter, die Atmosphäre. Schröder ist nicht fort, er war nur verreist. Er sitzt hinter dem Loch wie ein Urlauber, braungebrannt, und beugt sich über die Bilanz der vergangenen Monate. Vor der Krise konnte er in guten Monaten mehr als 200 Jobs vermitteln, jetzt sind es knapp über 100. Die Ziehung der Tagelöhner wiederholt sich jeden Morgen in einer Endlosschleife der Enttäuschung.

Während im Kanzleramt Banken gerettet und Verschrottungsblasen gebildet werden, verhandeln Schröder und die Tagelöhner über das Kaffeeabkommen. Die Männer können sich den Kaffee an der Tankstelle gegenüber nicht mehr leisten, und sie einigen sich mit Schröder darauf, dass sie den Kaffee bei Aldi kaufen und er ihn für sie kocht. Es hilft Schröder, die Stille nach der Ziehung der Tagelöhner zu überbrücken. Er fragt dann schnell: „Kaffee?“

Im Raum steht jetzt eine Sitzreihe weniger, vielleicht brauchten sie die Sitze auf der anderen Seite der Straße, im Jobcenter, wo die Schlange der Arbeitslosen vor der Tür immer länger wird. An manchen Tagen stehen sie 70 Meter die Straße herunter, bis zur Einfahrt von McDrive.

Vor Schröders Tür ist die Gruppe kleiner geworden. Herr Bogen, der Schiffsbauer, ist noch da, er sitzt am Fenster und liest ein Buch mit dem Titel „Erneuerbare Energien“. Herr Müßig ist immer noch fleißig. Menzel, der Ince im Stich ließ, haut immer noch ab, wenn er auf einer Baustelle die Lust verliert. Aber Linke, der ihn ersetzte, und Herr Zimmermann, der keinen Filzboden herausreißen wollte, sind verschwunden, auch der Mann, der sich nie setzte.

In der ersten Reihe sitzen drei neue Lohnsuchende, doch sie passen nicht in den Raum. Sie haben die glatten Gesichter von Jungen, und es erzählt etwas über den Druck auf den Arbeitsmarkt, dass sie nicht auf der anderen Straßenseite stehen, um ein paar Papiere zu bewegen. Die beiden Türken und der Libanese beeindrucken Schröder, weil sie mit ihren gefrästen Frisuren und tiefhängenden Hosen aussehen, als würden sie morgens um vier lieber ein paar Handys abziehen. Aber sie sind hier. Sie lehnen keinen Job ab, sie hauen von keiner Baustelle ab, und sie spielen auf ihren Handys immer wieder ein Lied des Rappers Sido, es ist die Hintergrundmusik ihrer Tage.

Steh auf, geh raus/
Und mach’s einfach/
Heute wird Dein Tag/
Beweg einfach Dein Arsch.

Ince kommt nicht zurück in den Raum. Er ist jetzt sein eigener Arbeitsvermittler. Manchmal hilft er dem Obstverkäufer auf der Straße vor seinem Haus, manchmal arbeitet er für die Reinigungsfirma eines Nachbarn und pflückt in Parks den Müll aus den Büschen. Er verdient etwas Geld, aber er vermisst den Lohn der Arbeit. Das Gefühl, mehr als ein paar Stunden gebraucht zu werden, mehr als ein paar Stunden dazuzugehören.

Eines Nachts steht Ince in einer Damentoilette und schlägt die Wände ein. Er schwingt einen schweren Hammer, und mit jedem Schlag verschwindet er tiefer in einer Wolke aus weißem Staub. Der Anruf kam unerwartet, Buchwalder brauchte ihn, und Ince fuhr los. Er füllt Schubkarren mit Schutt und rollt sie durch Gänge, an deren Wänden Dienstpläne hängen und Gewerkschaftspamphlete über gebrochene Tarifverträge. Ince sieht es nicht. Er trägt eine Schutzbrille, einen Mundschutz und Ohrstöpsel. Er ist ein Wesen aus einer anderen Welt.

Irgendwann in dieser Nacht steht Ince in schweißgetränktem Unterhemd draußen vor der Tür und friert, seine Augen sind durchschossen von Blut. „Ich glaube“, sagt er, „ich halte bis morgen nicht durch.“ Er trinkt einen Espresso aus dem Automaten, den fünften in dieser Nacht, dann hört er einen der Arbeiter rufen: „Wo ist denn mein türkischer Handlanger?“ Er geht zurück in die Damentoilette.

Am nächsten Morgen schleift er die Müllsäcke in den Hof und fegt um den Container herum, sein Kopf ist bedeckt von Staub, als wäre er über Nacht ergraut. Er nimmt seinen Lohn und geht über die Straße, durch die er kam, er bewegt sich rückwärts. Er setzt sich in eine Bäckerei und isst ein Stück Bienenstich, dann geht er die Treppe zur U-Bahn hinunter. Auf halbem Weg bleibt er stehen und sieht den Menschen nach, die an ihm vorbeiströmen, in die andere Richtung. „Die gehen zur Arbeit“, sagt er, „und ich gehe nach Hause.“

Er sieht aus, als sei ihm das unangenehm.