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Photos: Tina Hager

Der Spiegel

Tod in Camp Delta

Drei muslimische Männer wehrten sich gegen ihre Haft in Guantanamo. Am Ende brachten sie sich um - kurz bevor die Amerikaner einen von ihnen freilassen wollten. Rekonstruktion eines langsamen Sterbens im rechtsfreien Raum.

Er zieht an seiner Kette, langsam, behutsam, sie rasselt leise und spannt sich zu einem „V“ zwischen seinen Fußgelenken und dem Metallring im Boden. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht eine Pose, vielleicht formt er die Kette bewusst zu einem Zeichen des Sieges. Seine Augen verraten es nicht. Die Wahrheit ist schwer zu erkennen in diesem Raum, sie verschwimmt im Vielleicht.

Der Gefangene sitzt mit erhobenen Füßen auf einem weißen Plastikstuhl, es ist der einzige Gegenstand in diesem Raum, den er nicht in eine Waffe verwandeln kann.

In seinen Händen hält er das Manuskript seiner Verteidigung, er kann sie nicht bewegen, die Gelenke liegen in Handschellen. Eine Kette schnürt sich um seinen Bauch und fixiert seine Hände vor seinem Nabel, in einer Haltung der Demut. Er senkt den Kopf und blickt auf sein Manuskript, er bewegt die Lippen, als flüsterte er ein Gebet.

Drei Männer mit rasiertem Gesicht und geschorenem Nacken betreten mit schnellen, gleichförmigen Schritten den Raum. Ein Wärter befiehlt mit herrischer Stimme, sich vor den Männern zu erheben. Der Gefangene steht auf, und das „V“ zerfällt zwischen seinen Füßen.

Der Raum hinter Tür 7E ist ein hermetischer Ort, gebaut für das System, das in ihm operiert. Kein Tageslicht dringt herein, keine warme Luft, kein Richter, kein Anwalt. Es ist ein Rechteck außerhalb des Rechtsstaats, ein amerikanischer Ort außerhalb Amerikas.

Der Gefangene lächelt.

Es ist ein seltener Tag in Guantanamo, ein seltsamer Tag. Der Mann an der Kette ist gekommen, um zu reden. Er erzählt von einem Mann, dem er in Afghanistan begegnete, in den Bergen von Tora Bora. Den Namen des Mannes spricht er nicht aus, er nennt ihn nur OBL. Es klingt wie ein Code, ein Dienstgrad. Es sind die Initialen Osama Bin Ladens.

Der Raum hinter Tür 7E soll ein Ort der Hoffnung sein, eine Chance auf Freiheit. Einmal im Jahr dürfen die Gefangenen hier vor eine Militärkommission treten und sagen, warum sie keine Gefahr für Amerika sind, warum Amerika sie gehen lassen soll.

Die meisten erscheinen nicht. Sie glauben, dass es sinnlos ist.

Jassir Ibn Talal al-Sahrani, Manei Schaman Turki al-Habardi al-Uteibi und Salah Ali Abdullah Ahmed al-Salami betraten diesen Raum nicht. Sie blieben in ihren Zellen. Sie glaubten nicht an ein Leben nach Guantanamo. Sie widersetzten sich einem System, das sie im Dunkeln hielt über ihre Zukunft. Sie verteidigten sich nicht gegen Beschuldigungen, für die es keine Anklage gab.

Sie waren drei stolze arabische Männer, und sie verachteten das Amerika, das sie in Guantanamo kennenlernten. Sie lächelten nicht wie der Mann an der Kette, sie boten sich nicht als Spione an, damit Amerika sie gehen lässt.

Irgendwann begannen sie ihren Abschied, irgendwann rührten Sahrani, Uteibi und Salami das Essen, das die Wachen durch die Luke in ihren Zellentüren schoben, nicht mehr an. Ihre Körper schwanden, ihr Leben hing an dünnen gelben Schläuchen, die jeden Morgen in ihre Nasenlöcher geschoben wurden, Nährflüssigkeit tropfte in ihren Magen. In ihrem Kopf änderte es nichts. Sie wollten nicht bleiben, und in einer Nacht im Juni vergangenen Jahres beschlossen sie, Guantanamo zu verlassen. Sie stiegen auf die Waschbecken in ihren Zellen und erhängten sich.

In den Augen des Pentagon waren die Männer, die an den Wänden ihrer Zellen hingen, Attentäter, die mit ihren Selbstmorden einen Anschlag auf Amerika verübten. Das Pentagon schlug zurück.

Die Geschichte des Lebens und Sterbens der Gefangenen ist die einer Odyssee dreier junger Männer, die nach Afghanistan aufbrachen und auf Kuba endeten. Sie erzählt von einem Krieg gegen einen schwer zu definierenden Terror, einem Kampf, den Amerika bis in die Zellen seiner Gefangenen führt. Sie erzählt von einem Lager, in dem sich die Asymmetrie dieses Krieges offenbart. Und sie führt zu Frontlinien zwischen denen amerikanische Anwälte stehen und versuchen, vermeintliche Feinde ihres Landes zu verteidigen. Es ist die Geschichte des inneren und äußeren Kampfs um Guantanamo.

Die ganze Wahrheit kennt niemand außer den Toten. Doch es gibt Orte, an denen man ihre Geschichte zusammenfügen kann. Es liegen Akten und Briefe an diesen Orten, Menschen, die das Leben und Sterben der drei Gefangenen begleiteten, erinnern sich. Es sind Orte, an denen sich die Stränge der Geschichte verbinden. Eine Anwaltskanzlei in Washington. Eine Moschee in London. Ein Wohnzimmer in North Carolina. Eine Zelle in Guantanamo.

Jassir Talal al-Sahrani ist 16 Jahre alt, als er sich in Mekka von seinem Vater verabschiedet. Es ist der Sommer 2001, Jassir hat an seiner Schule die elfte Klasse beendet. Er will nach Dubai, in die Stadt der Möglichkeiten, um Englisch zu lernen und den Umgang mit Computern.

Jassir verlässt Mekka und bricht nach Dubai auf, doch einige Wochen später ruft er den Vater aus Pakistan an, aus einem Ort nahe der Grenze zu Afghanistan. In New York sind die Türme gefallen, und in Afghanistan hat der amerikanische Angriff auf das Regime der Taliban begonnen. Er werde sich einer gemeinnützigen Organisation anschließen, sagt Jassir, und den Menschen in Afghanistan helfen, das sei er seinen muslimischen Brüdern schuldig.

Wenige Tage später ruft Jassir noch einmal an. Er werde jetzt in ein Gebiet gehen, in dem er nicht telefonieren könne, sagt Jassir seiner Mutter und verabschiedet sich. Er sagt nicht, wohin er geht, und die Mutter fragt nicht. Sie wünscht ihrem Sohn, dass Allah ihn beschützen möge. Es ist das letzte Mal, dass sie seine Stimme hört.

Manei Schaman Turki al-Habardi al-Uteibi wird im selben Land wie Jassir geboren, doch ihre Leben verbindet nichts. Er wächst in einem Kokon des Wohlstands auf.

Irgendwann vor oder nach dem 11. September 2001 bricht Uteibi mit seinem verwöhnten Leben. Er schließt sich Tabligh-i-Jamaat an, einer Gruppe muslimischer Missionare. Uteibi folgt ihrem Ruf und bricht auf nach Pakistan.

Salah Ali Abdullah Ahmad al-Salami folgt den Geboten des Korans seit seiner Kindheit. Er wird in Taiss, einer 400 000-Einwohner-Stadt im Jemen, geboren und folgt islamischer Tradition, auch in der Liebe. Die Frau, die er heiratet, sucht seine Familie für ihn aus.

Salami verinnerlicht den Islam, sein Glaube ist sein Navigationssystem, der Referenzpunkt für seinen Blick auf die Welt.

Irgendwann im Jahr 2001 fährt Salami nach Pakistan, in das Land, in dem auch seine Biografie bricht. Salami geht nach Faisalabad, eine Stadt in der Nähe von Lahore, und sucht nach Antworten, nach der tieferen Bedeutung seines Glaubens. Er wohnt mit jungen Männern in einem Haus und studiert mit ihnen den Koran.

Die Wege von Salami, Sahrani und Uteibi kreuzen sich in Pakistan nicht, doch es ist das Land, in dem sie wie in einem Basislager Station machen auf dem Weg nach Afghanistan. Ob sie die Grenze zum Land der Taliban überschreiten, ist unklar, ihre Spur verliert sich irgendwann.

Es gibt nur ein Blatt, eine Pressemitteilung, in der das Pentagon das Leben der drei Gefangenen in wenigen Absätzen zusammenfasst. Es ist das einzige Dokument, das die US-Regierung über die Selbstmörder veröffentlichte, Stunden, nachdem sie sich erhängten. Es klingt wie ein Abschlussbericht, als wären alle Fragen beantwortet.

Den minderjährigen Sahrani beschreibt das Pentagon als einen „Frontkämpfer für die Taliban", der Waffenkäufe organisierte. Er sei unter den Häftlingen gewesen, die im Gefängnis von Masar-i-Scharif im Norden Afghanistans einen blutigen Aufstand begannen.

Über Uteibi sagt das Pentagon nur, dass er Mitglied einer Terroristengruppe gewesen sei, einer „Rekrutierungsorganisation der zweiten Ebene“ der Qaida. Die Rekrutierungsorganisation, die das Pentagon meint, ist Tabligh-i-Jamaat, die Gruppe muslimischer Missionare, der sich Uteibi in Saudi-Arabien anschloss. Tabligh-i-Jamaat ist in den Vereinigten Staaten nicht verboten und steht nicht auf der Liste terroristischer Vereinigungen.

Salami war nach Beschreibung des Pentagon der gefährlichste der drei Gefangenen, ein „Qaida-Operateur der mittleren bis oberen Ebene“ mit „engen Verbindungen zu Abu Subeida". Abu Subeida galt als Mitglied der Qaida-Führungsebene.

Das Pentagon sagt nicht, wo es Salami aufgriff, doch es lässt einen anderen Gefangenen die Geschichte der Festnahme erzählen. Sie steht in den Protokollen der „Combatant Status Review Tribunals", der Militärtribunale, die entscheiden, ob die Gefangenen in Guantanamo „feindliche Kämpfer“ sind. Das Pentagon wollte die Protokolle nicht veröffentlichen, doch ein Gericht zwang es dazu.

Die Protokolle stehen im Internet unter der Adresse www.defenselink.mil, es ist die virtuelle Front, an der sich Amerika verteidigt. Man kann dort nach Gefangenen suchen und lesen, was sie vor den Tribunalen sagten. Doch es ist nicht leicht, sie zu finden. Die Gefangenen haben in den Protokollen keinen Namen, nur eine dreistellige Nummer, sie sind so gesichtslos wie die Tribunaloffiziere, deren Namen geschwärzt wurden.

Das Protokoll des Tribunals von Salami steht nicht auf der Website, vielleicht stand es dort nie, vielleicht ist es verschwunden. Doch sein Name taucht dort auf, im Protokoll des Tribunals von Häftling Nummer 688. Er erzählt darin, wie er Salami in Faisalabad begegnete und was dann geschah.

Häftling Nummer 688 stammt wie Salami aus dem Jemen, er ist angeblich in Pakistan, um mit Textilien zu handeln. Er hört Salami auf einer Straße in Faisalabad Arabisch sprechen und stellt sich vor. Der Mann erzählt, dass sein Visum für Pakistan abgelaufen sei, und Salami verspricht, ihm zu helfen.

Er werde mit Leuten reden, die Verbindungen zur Regierung hätten und das Problem vielleicht lösen könnten. Salami bietet ihm eine Unterkunft an in dem Haus, in dem er wohnt, und der Mann folgt ihm.

Zwei Wochen lang leben Salami und der Fremde in dem Haus wie in zwei Welten, dann dringen pakistanische Sicherheitskräfte in Begleitung von zwei Amerikanern in das Haus ein und nehmen die Männer gefangen.

Die Pakistaner bringen Salami und die anderen Gefangenen nach Lahore, dort bleiben sie eine Woche und werden von Amerikanern, die keine Uniform tragen, verhört. Von Lahore werden die Gefangenen nach Islamabad verfrachtet, dann in amerikanischen Militärflugzeugen nach Afghanistan gebracht, zuerst nach Bagram, später nach Kandahar. Irgendwann wird Salami über eine Rampe in den Bauch eines Flugzeugs geführt. Es ist die letzte Etappe seiner langen Reise in den Tod.

Salami, Sahrani und Uteibi geraten an verschiedenen Punkten und zu verschiedenen Zeiten in Gefangenschaft, doch sie enden am selben Ort. Irgendwann wird ihnen das Gesicht rasiert und der Schädel geschoren. Sie müssen Windeln um ihre Hüften binden und in leuchtende orangefarbene Overalls schlüpfen, sie müssen Ohrenschützer aufsetzen, die alles um sie herum verstummen lassen, und sterile Masken, die ihren Mund bedecken. Schwarze Stoffsäcke werden über ihren Kopf gezogen. Sie sehen aus wie Männer, die gehängt werden sollen. Dann werden sie an den Boden eines Transportflugzeugs gekettet und wie Frachtgut verzurrt.

Sie sitzen in Reihen wie beim Freitagsgebet und fliegen 27 Stunden nach Westen, über ihren Köpfen das Sternenbanner Amerikas, Mekka in ihrem Rücken. Sie lassen Afghanistan 8000 Meilen hinter sich, sie frieren. Dann treten sie aus dem kalten Bauch des Flugzeugs in eine brennende Hitze und fallen auf die Knie.

Sie sind in Guantanamo.

Ein paar Reporter dürfen die Ankunft der ersten Gefangenen im Januar 2002 aus der Ferne beobachten. Sie erleben eine Vorführung. Marines umstellen die Gefangenen, brüllen auf sie ein und führen sie aus dem Bauch der Maschine. Die Gefangenen machen kleine Schritte, sie stolpern, Ketten spannen sich zwischen ihren Füßen. Am Ende der Flugzeugrampe sinken sie auf die Knie. Vielleicht sind sie erschöpft, vielleicht wollen sie beten.

Wahrscheinlich wissen Sahrani, Uteibi und Salami nicht, wo sie sind. Sie fahren über die Sherman Avenue nach Norden, zu einer Anhöhe, hinter der Kuba beginnt. Hier liegt die „No Salute Area": Damit die Kubaner beim Blick aufs Lager nicht erkennen können, wer Chef ist und wer Untergebener, dürfen Soldaten hier ihre Vorgesetzten nicht grüßen. Zwei mit Stacheldraht umwickelte Säulen erheben sich wie ein Portal links und rechts der Straße.

Die Verteidiger Amerikas sprühten zwei Botschaften auf die Säulen, sie gelten dem Land, das hinter ihnen liegt, doch sie klingen wie eine Begrüßung der Gefangenen in Guantanamo. „Geh rein, wenn du dich traust“ steht auf der linken Säule, „Hau ab, wenn du kannst“ auf der rechten.

Die Wagen mit den Gefangenen biegen rechts ab, bevor sie die Säulen erreichen. Sie halten vor einem Labyrinth aus Zäunen und Stacheldraht, die Gefangenen erreichen das Ziel ihrer Reise. Sie sind in Camp X-Ray, dem Röntgenlager. Das Lager trägt diesen Namen, weil es durchsichtig ist, seine Zellen haben keine Wände, nur Zäune. Es ist ein Ort, an dem Amerika seine Gefangenen durchleuchtet.

Von außen wirkt das Lager wie ein Ort, an dem Amerika seine Gefangenen ausstellt. Sahrani, Uteibi und Salami kreisen in ihren Zellen wie Tiere im Käfig. Die Wellblechdächer über ihren Köpfen schützen sie nur, wenn die Sonne im Zenit steht und wenn der Regen senkrecht fällt. Sie schlafen auf dem Boden, Spinnen und Skorpione kriechen in ihre Zellen, Geckos und Ratten. Sie haben keine Toiletten, sie müssen sich in Eimer entleeren.

Drei Monate nach ihrer Ankunft dürfen die Gefangenen Camp X-Ray verlassen. Sie werden aus dem Inneren der Bucht an die Karibikküste verlegt. Nahe am Meer, auf dem östlichen Arm der Bucht, hat das Pentagon ein neues Lager errichtet. Camp Delta ist ein verschachteltes, rechtwinkliges Gebilde, in dem die Gefangenen wie Figuren auf einem Schachbrett verschoben werden. Sie reisen, scheinbar endlos, durch die Innenwelt des Lagers, durch Sicherheitsebenen und Verhörräume, Isolationszellen und Krankenstationen.

Die Gefangenen werden vermessen und klassifiziert nach ihrem Willen zu reden und zu gehorchen. Sie werden in eine Dreiklassengesellschaft gespalten und nach der Farbenlehre des Pentagon gekleidet, weiß die Gesprächigen, sandfarben die Gefügigen, orange die Gefährlichen.

Camp 1, das Lager der Gefügigen, ist das Herzstück von Camp Delta, ein Quadrat, in dem die Zellenblocks wie Reihenhäuser nebeneinanderstehen. Hier kommen sich Sahrani, Uteibi und Salami näher. Die Rauten der Gitterwände sind kleiner als die Maschen der Zäune von Camp X-Ray, doch die Gefangenen können ihre Zellennachbarn sehen und hören. Sie können sich Nachrichten zuflüstern und sie von einem Ende des Blocks ans andere schicken.

Die Blocks von Camp 1 sind aus Stahl, verschweißt zu langen eingeschossigen Riegeln. Die Wärter schreiten über die Mittelgänge wie über das Deck eines Frachtschiffs, die Gefangenen hören sie kommen, der Klang ihrer Stiefel hallt ihnen voraus, scheppernd, metallisch. Je 24 Zellen liegen auf beiden Seiten des Gangs, gestanzt nach exakt gleichen Maßen, 2,03 Meter breit und 2,44 Meter lang.

Sahrani, Uteibi und Salami warten in der Leere ihrer Zellen. Es gibt nichts, woran sie sich festhalten können, keinen Stuhl, keinen Tisch, nichts, womit sie sich und die Wärter verletzen können.

Es gibt ein Waschbecken in der Ecke, neben einem Spalt im Boden, über dem die Gefangenen hocken und sich entleeren. Das Waschbecken ist aus Stahl, verschweißt mit der Wand, es wirkt wie geschrumpft, so klein und niedrig, als wäre es für Kinder gebaut. Die Gefangenen müssen sich tief bücken, es ist eine gute Höhe, um vor dem Gebet ihre Füße zu waschen. Vielleicht kommt ihnen in diesen Momenten die Idee, dass das Becken etwas anderes sein könnte, eine Stufe, ein Podest.

Sie haben Zeit nachzudenken. Sie liegen auf ihrem Bett, einer Metallplatte, die wie ein Regal aus der Zellenwand ragt, hüfthoch, und starren auf den schwarzen Pfeil am Fußende, nach dem sie ihr Leben ausrichten. Er zeigt nach Mekka.

Sahrani, Uteibi und Salami wissen nie, wie lange sie in ihren Zellen bleiben. Manchmal werden sie nach Stunden, manchmal nach Tagen, manchmal nach Wochen in andere Zellen verlegt, manchmal im selben Block, manchmal in einen anderen, manchmal am Tag, manchmal in der Nacht. Es ist Teil des Systems, eine gesteuerte Ungewissheit, die Freundschaften verhindern soll oder zerbrechen. Es gibt keinen Halt, nirgends. Guantanamo ist ein Schwebezustand.

Irgendwann wird Tarek Dergoul in die Zelle neben Uteibi verlegt.

Dergoul ist der Sohn marokkanischer Eltern, er lebte in London. Er wollte in Afghanistan, kurz vor dem amerikanischen Angriff, Häuser kaufen, aus denen Menschen flüchteten. Er glaubte, dass nach der Bombardierung noch genug Häuser stehen würden, um sie mit Gewinn zu verkaufen. Irgendwann wurde Dergoul von den Splittern einer Bombe getroffen und verlor seinen linken Arm. Die Nordallianz verkaufte ihn für 5000 Dollar an die Amerikaner, und sein Weg nach Guantanamo begann.

Fast drei Wochen lang sind Dergoul und Uteibi nur durch ein Gitter getrennt. Sie können nichts tun, das der andere nicht sieht oder hört.

Uteibi ist ein Mann ohne Gesicht, es gibt kein Bild von ihm. Er ist größer als Dergoul, etwas über 1,80 Meter, und seine Haut ist dunkler, fast schwarz. Er hat ein schmales, längliches Gesicht. „Manei war sehr dünn", erinnert sich Dergoul. „Wenn er sein Hemd nicht trug, konnte ich die Knochen unter seiner Haut sehen."

Die Stimme, die Dergoul durch das Gitter hört, ist ungewöhnlich tief für einen schmächtigen Mann. Er mag diese Stimme, ihren Klang, mit dem Uteibi seinen Zellennachbarn Gedichte vorträgt. „Es waren klassische arabische Gedichte, die einen Bezug zu unserer Situation hatten", sagt Dergoul. „Sie hatten eine Poesie wie 'Macbeth'."

Dergoul sitzt auf einer Treppe in der Central Mosque in London. Es ist kein guter Ort, um ungestört zu reden, doch er will nicht allein sein mit einem Fremden. Es erinnert ihn an die Verhöre in Guantanamo.

Uteibi ist kein Anführer, doch die Gefangenen blicken zu ihm auf. „Alle liebten ihn", sagt Dergoul, „seine Gedichte, seine Scherze, seine Persönlichkeit. Ich erinnere mich an keinen Gefangenen, der so aus sich herausging. Manei war wie ein Komiker, doch er hatte auch eine ernste Seite."

Es ist seine ernste Seite, die Uteibi in Schwierigkeiten bringt. „Er ließ sich von den Wärtern nichts gefallen", sagt Dergoul. „Wenn sie den Koran in die Toilette warfen, sich auf ihn stellten oder ihn zerrissen, wehrte Manei sich. Er stand immer für seine Rechte auf.“ Die erste Stufe seines Widerstands ist das Schweigen. Uteibi redet nicht mit den Wärtern, er sitzt stumm in seinen Verhören.

Uteibis Schweigen breitet sich aus. Die Gefangenen erkennen die Macht, die in der Verschlossenheit liegt. Der ganze Zellenblock verstummt. Die Macht der Wärter liegt in der Deutungshoheit. Sie sehen in dem Rückzug der Gefangenen einen Angriff und schlagen zurück. „Sie kamen in der Nacht", erinnert sich Dergoul. „Sie ließen uns nicht schlafen, sie schlugen gegen das Metall, sie schrien, sie zogen uns aus den Zellen und durchsuchten sie. Für nichts. Sie terrorisierten uns."

Kleine Dinge bekommen im Lager eine große Bedeutung, in ihrer Kontrolle liegt Macht. Wenn Uteibi und Dergoul den Wärtern widersprechen, wenn sie etwas tun, das den Wärtern missfällt, werden sie mit dem Entzug kleiner Dinge bestraft. Manchmal beginnen die Machtkämpfe mit einem Apfel. „Wenn wir nach dem Essen einen Apfel behielten", sagt Dergoul, „nahmen sie uns Dinge weg, die wir brauchten. Unsere Decken. Unsere Seife. Unser Toilettenpapier.“ In der Sprache des Pentagon sind diese Dinge ein Privileg, ein Zeichen gehobenen Standards. Es nennt sie „comfort items", Komfortgegenstände.

Der Entzug der kleinen Dinge ist der Beginn der Bestrafung. Ihm folgt irgendwann der Entzug der Gemeinschaft, die Verbannung an einen Ort namens Indien. Block India liegt wenige Schritte entfernt von den anderen Blocks in Camp 1, er ist halb so groß, 24 Zellen. Es ist der Block der Einsamkeit. „Sie nehmen dir alles weg", sagt Dergoul. Die Gefangenen bleiben allein mit sich und der Klimaanlage, sie bläst von der Decke auf sie herab. Die Macht über die Temperatur in den Zellen liegt in den Händen der Wärter. Sie lassen die Gefangenen schwitzen, sie lassen sie frieren.

Mehrmals werden Uteibi und Dergoul in die Isolation abgeschoben. Sie können einander in den Zellen nicht sehen, doch sie hören einander, sie können reden. Sie sind nicht allein in ihrer Einsamkeit. Block India ist ein Ort, der die Gefangenen brechen soll, doch er härtet Uteibi. Mit jedem Gang in die Isolation wächst sein Widerstand.

Der Block, in dem Uteibi sich allein fühlen soll, verbindet die Isolierten, sie werden Teil einer Gemeinschaft, einer kollektiven Einzelhaft der Unbeugsamen. Durch das Fenster in seiner Zellentür sieht Uteibi die Gefangenen, die in die anderen Isolationszellen geführt werden, er sieht ihre Gesichter, er sieht, wie sie die Schultern halten, die Köpfe. Ein Gesicht fällt ihm auf.

Jassir Talal Al-Sahrani ist 17, als er in Guantanamo landet. Es gibt ein Bild seiner Gefangenschaft, ein Porträt, wie aufgenommen für eine Galerie. Sahrani blickt mit fragenden Augen in die Kamera. Er hat ein schmales Gesicht, gerahmt von einem schmalen Bart. Er scheint den Kopf leicht vorzuschieben, er hält ihn gerade, doch seine Schultern sind schief, vielleicht, weil seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt sind. Es ist ein merkwürdig farbiges Bild, als hätte es jemand nachkoloriert, das Orange seines Hemds, seine leicht gedunkelte Haut, seine weiße Häkelkappe, der himmelblaue Hintergrund.

Uteibi hat ein anderes Bild von Sahrani. Er sieht einen jungen Mann mit langem Haar, der irgendwann geschoren wird. Sahrani ist verwirrt, er versteht nicht, warum er in Guantanamo ist, er versteht nicht, was mit ihm geschieht. Er sucht nach Antworten. Er beugt sich über den Koran und liest, bis er alle Suren auswendig kennt.

In seinem Glauben findet Sahrani Halt. Er wird zum Vorbeter in seinem Zellenblock, und abends singt er Naschids, arabische Lieder. Er macht den Gefangenen Hoffnung. Er sagt ihnen, dass ihr Leiden Gottes Wille sei und dass Gott es bald beenden werde.

An der Wand seiner Zelle, über dem Pfeil Richtung Mekka, hängt das Buch, das Sahranis Leben bestimmt. Sein Koran ist in einen weißen Mundschutz gehüllt, die Schnüre verknotet in der Gitterwand. Es wirkt klinisch, steril, als ginge von dem Buch eine Ansteckungsgefahr aus. Es soll den Koran schützen, ihn schweben lassen in der Zelle, unbeschmutzt, unberührt von den falschen Händen.

Vor jedem Gebet zieht Sahrani den Koran aus dem Mundschutz, und jedes Mal sieht er die weißen Schnüre, wie sie verknotet sind in der Wand. Vielleicht verändert es seinen Blick. Vielleicht sieht er in der Wand irgendwann die Möglichkeit, etwas aufzuhängen.

Der Koran ist die verletzliche Stelle der Gefangenen, das wissen die Wärter. Als Sahrani nach einem Verhör in seine Zelle zurückkehrt, bemerkt er, dass sein Koran durchsucht wurde. Es ist eine Entweihung in seinen Augen. Er übergibt den Koran an den Imam des Lagers, und als die Wärter das Buch zurückbringen, weigert Sahrani sich, es anzunehmen. Er weiß, was nun folgen wird, es gibt ein Wort dafür in der Sprache von Guantanamo. Er wird „geERFt".

Die ERF, die „Extreme Reaction Force", ist eine schnelle Eingreiftruppe, sie hält sich in der Nähe der Zellenblocks bereit. Wenn die Wärter sich bedroht fühlen oder die Gefangenen bestrafen wollen, rufen sie die ERF. Dergoul erlebt die brutale Choreografie des Kommandos. „Die Wärter rufen die fünf Feiglinge, fünf so genannte Männer, die in die Zelle stürmen", sagt er. „Sie tragen Schutzkleidung, der Erste hat einen Plastikschild, und da ist ein Sechster mit einer Kamera, der alles filmt. Sie sprühen dir Pfefferspray ins Gesicht, verdrehen deine Arme und Beine und legen dir Hand- und Fußschellen an. Sie rasieren deine Haare ab, deinen Bart, deine Augenbrauen. Sie springen auf deinen Rücken. Sie nehmen deinen Kopf und schlagen ihn auf den Boden. Sie drücken dir ihre Finger in die Augen."

Dergoul schließt die Augen. Er schweigt für einen Moment. „Es sind unglaubliche Schmerzen, ich kann sie nicht beschreiben", sagt er dann und öffnet die Augen. „Wenn man sieht, wie die ERF diese Dinge mit einem Gefangenen macht, denkt man: Er wird sterben."

Sahrani überlebt den Tag, an dem die ERF seinen Koran zurückbringt. Doch er und Uteibi und Salami fragen sich, um welchen Preis sie Guantanamo überleben. Sie pendeln zwischen ihren Zellen und den Verhörräumen, zwischen ERF und Isolation, zwischen Verzweiflung und Widerstand. Sie ziehen sich in ihren Körper zurück, in einen Bereich, in dem sie glauben, noch die Macht zu haben. Sie fahren die Systeme herunter. Sie sprechen nicht mehr. Sie hören nicht mehr. Und irgendwann essen sie nicht mehr.

Der innere Kampf um Guantanamo verschärft sich parallel zu dem äußeren Kampf, in dem es um mehr geht als das Lager, um mehr als Gerechtigkeit. Es ist ein Kampf um Amerika.

Im Frühjahr 2005 sitzt der Rechtsanwalt George Daly in seiner Wohnung an der Altondale Avenue in Charlotte, North Carolina, und liest in einer Juristenzeitschrift über den Kampf der Verteidiger in Guantanamo. Es gibt zwei Konstanten in Dalys Leben: Politisch war er immer ein Demokrat, und als Anwalt hat er Amerikaner und ihre Bürgerrechte gegen die Regierung verteidigt. Es begann mit dem Vietnam- Krieg, als er Kriegsdienstverweigerer verteidigte.

Daly ist 68, er ist seit sechs Jahren pensioniert, als er über den Kampf der Anwälte liest. Es berührt etwas in ihm. Er sieht in Guantanamo ein Symbol für ein anderes, ein unamerikanisches Amerika. Daly beschließt, einen Gefangenen zu verteidigen, und sucht einen Partner.

Jeffrey Davis ist der Gegenentwurf zu Daly. Er ist Republikaner und arbeitet in einer der größten Anwaltskanzleien in Charlotte, er vertritt große Firmen und großes Geld. Während des Vietnam-Kriegs, als Daly die Verweigerer verteidigte, kämpfte Davis bei Dong Ha gegen die Tet-Offensive des Vietcong.

40 Jahre später fragt der Demokrat Daly den Republikaner Davis, ob er gemeinsam mit ihm gegen die eigene Regierung kämpfen will. Davis sagt sofort zu.

Daly und Davis sehen die Verfassung als das Fundament Amerikas, eine Schrift, die Antworten gibt auf die großen Fragen, unfehlbar, unantastbar. Sie glauben an die Verfassung wie die Gefangenen in Guantanamo an den Koran.

Der äußere Kampf um Guantanamo ist ein Glaubenskampf, ein Kampf um die Frage: An welches Amerika glauben wir? „Ich habe mein ganzes Leben geglaubt, dass wir die Guten sind", sagt Davis, „dass wir führend sind in der Welt, wenn es um Menschenrechte geht. Doch das sind wir nicht mehr, und das macht mich traurig, es ängstigt mich. Wir sind wie die Russen in den fünfziger und sechziger Jahren, wie Chile in den Siebzigern, wie Argentinien in den Achtzigern. Leute werden mitten in der Nacht abgeholt, weil jemand etwas über sie erzählt hat oder weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Und dann verschwinden sie."

Der Kampf um Gerechtigkeit für Manei Schaman Turki al-Habardi al-Uteibi beginnt am 17. März 2005. An diesem Tag sagt ein Gefangener in Guantanamo seinem Anwalt, dass Uteibi einen Verteidiger sucht. Der Anwalt leitet Uteibis Wunsch an das Center for Constitutional Rights (CCR) in New York weiter. Das CCR ist die unabhängige Organisation, die den juristischen Kampf gegen Guantanamo koordiniert. Dort sitzt Emi Maclean in ihrem kleinen,

geschundenen Büro am Broadway zwischen zwei Listen, auf der einen stehen die Namen der Gefangenen, die einen Anwalt suchen, auf der anderen die Namen der Anwälte, die einen Mandanten suchen. Sie legt die Listen nebeneinander und verbindet Uteibi mit Daly und Davis.

Die Anwälte zeigen beim United States District Court in Washington an, dass sie ihren Mandanten in Sachen „Mazin Salih Al-Harbi gegen George W. Bush und andere“ vertreten. Das Justizministerium erwidert, es gebe in Guantanamo keinen Gefangenen mit diesem Namen. Es ist wahr - wenn man in Buchstaben denkt. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, arabische Namen in lateinische Buchstaben zu fassen. Erst als Daly und Davis dem Gericht mitteilen, dass der Name ihres Mandanten auch „Mane Shaman al-Habardi“ lauten könnte, bestätigt das Justizministerium, dass es den Gefangenen gibt. Drei Monate sind vergangen.

Es ist der Beginn einer Auseinandersetzung, die das Justizministerium ins Formale verlagert. Es geht nie um den Gefangenen, wer er ist, was er tat. Es geht um die Schreibweise seines Namens, es geht darum, ob die Anwälte ihm Post schicken dürfen, ob sie ihn besuchen dürfen, wann und wie lange.

Es beginnt mit der Frage, ob Daly und Davis wirklich Uteibis Anwälte sind. Wo ist ihre Vollmacht? Sie haben Uteibi schließlich nie gesehen. Und sie dürfen ihn nicht sehen, wenn sie nicht seine Anwälte sind.

Eine Regierung, die keine Fragen beantwortet, stellt alles in Frage. Sie will nichts beweisen müssen und akzeptiert nur das Bewiesene. Uteibi hat kein Gesicht in Civil Action No. 05-CV-1857 (CKK), nur die Stimme zweier Anwälte, die nie mit ihm gesprochen haben. Manchmal kommt Daly das Verfahren unwirklich vor. „Es gibt ein Buch, in dem steht das im Prinzip alles drin", sagt er. „Es ist von Kafka und heißt 'Der Prozess'."

In Washington versucht der Rechtsanwalt David Engelhardt zur gleichen Zeit, Salami zu verteidigen. Er beantragt vor Gericht, dass „George W. Bush, 1600 Pennsylvania Avenue, Washington, D. C. 20500", den Gefangenen „Saleh Ali Abdullah Al Salami, Guantanamo Bay, Cuba“ entweder freilässt oder die Gründe für seine Inhaftierung nennt. Eine Woche später, am 30. Dezember 2005, antwortet eine Anwältin im Justizministerium in einer E-Mail, dass sie die Identität eines Gefangenen mit diesem Namen nicht bestätigen könne. Zum Abschied wünscht sie ein „Happy New Year".

Die Regierung verlangsamt das Verfahren. Es ist dieselbe Taktik wie in Uteibis Fall. Doch diesmal ist nur ein Buchstabe im Namen des Gefangenen falsch. Und es fehlt der vierte Vorname. Den Gefangenen, den das Justizministerium unter dem Namen „Saleh Ali Abdullah Al Salami“ nicht finden kann, entdeckt es unter dem Namen „Salah Ali Abdullah Ahmed Al Salami". Es dauert zwei Monate.

Uteibi und Salami wissen nicht, dass in Charlotte, Washington und New York amerikanische Anwälte in ihrem Namen den Präsidenten der Vereinigten Staaten auffordern, ihre Inhaftierung zu rechtfertigen. Sie können es nicht wissen. In Guantanamo sagt es ihnen niemand, und die Anwälte dringen nicht zu ihnen vor.

Sahrani hat keinen Verteidiger. Vielleicht wollte er keinen. Viele Gefangene trauen den Anwälten nicht. Sie wurden von Männern besucht, die sich als ihre Anwälte vorstellten und in Wahrheit Ermittler waren, die sie verhörten. Die Anwälte verlieren Zeit, und Engelhardt, Daly und Davis werden sich später fragen, ob sie in diesen Monaten ihre Mandanten verloren. Es sind entscheidende Monate. Während das Justizministerium vorgibt, ihre Mandanten in Guantanamo nicht finden zu können, hungern Sahrani, Uteibi und Salami in ihren Zellen.

Colonel Michael Bumgarner führt seit April 2005 das Kommando in Camp Delta. Er ist mit dem Auftrag gekommen, dem Lager ein menschlicheres Gesicht zu geben. Er legt einen Ausdruck der Genfer Konventionen auf seinen Schreibtisch, und als zwei Monate nach seiner Ankunft mehrere Dutzend Gefangene einen Hungerstreik beginnen, geht Bumgarner einen ungewöhnlichen Weg. Er geht zu den Gefangenen.

Bumgarner besucht einen Mann, der Einfluss hat auf die Gefangenen. Schakir Amir ist 38 und stammt wie Sahrani und Uteibi aus Saudi-Arabien. Er soll ein wichtiger Operateur der Qaida in London gewesen sein, bevor er im Sommer 2001 nach Afghanistan ging. Amir hat einen dichten Bart und langes zu einem Pferdeschwanz gebundenes schwarzes Haar. Er trägt eine Brille und spricht in geschliffenem Englisch. Die Wärter nennen ihn „Der Professor".

Der Colonel und der Professor sitzen sich mehr als vier Stunden gegenüber. Sie reden über die Haftbedingungen und den Hungerstreik, und Bumgarner hört etwas, das er nicht glauben will. Amir erzählt ihm von einer Vision, einem prophetischen Traum, den mehrere Gefangene hatten. Sie sahen ihre Erlösung. Sie träumten, dass drei von ihnen sterben müssen, um alle anderen zu befreien.

Das islamische Recht verbietet den Selbstmord, doch die Scharia ist nicht unantastbar.

Saber Lahmar, ein Algerier, den die Gefangenen als religiösen Führer respektieren, erzählt ihnen von einer Fatwa, dem Rechtsgutachten eines Muftis, das eine Ausnahme erlaube. Sie dürften sich das Leben nehmen, sagt Lahmar, wenn sie mit ihrem Tod Staatsgeheimnisse schützen oder das Allgemeinwohl verteidigen.

Bumgarner ist beunruhigt. Er geht auf einige Forderungen der Gefangenen ein, um den Konflikt zu entschärfen. Er ordnet an, dass „The Star-Spangled Banner“ nicht mehr zur gleichen Zeit wie der Ruf zum Gebet durch das Lager schallt. Er lässt während der Gebetszeiten gelbe Plastikkegel mit einem großen „P", dem Zeichen für „prayer", in den Zellengängen aufstellen. Er erhöht die Energiemenge des Essens von täglich 2800 auf 4200 Kilokalorien.

Es sind kleine Zugeständnisse. Sie berühren das Machtverhältnis im Lager nicht. Doch Bumgarner macht ein weiteres scheinbar kleines Zugeständnis, dessen Folgen ihm Monate später, in einer Nacht im Juni 2006, bewusst werden. Er ändert eine Regel in den Blöcken, in denen die Gefangenen „compliant“ sind, folgsam. Einer dieser Blöcke ist Camp 1, in dem Sahrani, Uteibi und Salami ihre Zellen haben. Dort lässt Bumgarner zwischen 22 und 4 Uhr das Licht in den Zellen ausschalten. Die Gefangenen sollen schlafen können. Sie sollen ungestört sein in der Nacht.

Amir beendet seinen Hungerstreik, und Bumgarner führt ihn zu Camp 5, in den Hochsicherheitstrakt. Es gelingt Amir, andere einflussreiche Gefangene zu überzeugen, ihren Hungerstreik zu beenden. In manchen Blöcken brandet Applaus auf, als die Gefangenen Amir sehen, einige weinen. Es ist der Beginn einer Phase, die Bumgarner später die „Zeit des Friedens“ nennen wird.

Bumgarner setzt sich mit Amir und fünf anderen einflussreichen Gefangenen an einen Tisch. Er lässt ihre Handschellen abnehmen. Sie tragen Bumgarner ihre Forderungen vor, und er verspricht, die Gefangenen „im Geist der Genfer Konventionen“ zu behandeln. Wenige Tage danach dürfen sich die sechs Gefangenen, sie nennen sich „Der Rat", allein treffen. Als sie Notizen austauschen und die Wärter einschreiten, verschlucken einige von ihnen die Zettel. Die „Zeit des Friedens“ ist vorbei.

Die Zeit des Hungerns beginnt von neuem. Mehr als 130 Gefangene hungern bald in ihren Zellen, mehr als jemals zuvor. Sie wollen ihr Essen nicht anrühren, bis sie angeklagt oder freigelassen werden.

Bumgarner isoliert die Hungerstreikenden an den Rändern des Lagers, in Blöcken, deren Namen nach Freiheit klingen. Romeo. Lima. Tango. Echo. Camp Echo ist der entfernteste Ort, die einzige Verbindung der Gefangenen zur Außenwelt. Sie treffen dort ihre Anwälte. Es ist der Ort, an dem sich Sahrani, Uteibi und Salami vollständig zurückziehen.

Amir hungert zur selben Zeit wie sie in Camp Echo. Mit der Akribie eines Reporters notiert er in seinem Tagebuch, wie die Wärter versuchen, ihren Widerstand zu brechen. Wie sie ihnen die Kleider wegnehmen, bis auf ein T-Shirt und eine kurze Hose, weil sie wissen, dass ein Muslim seinen Körper vom Nabel bis zu den Knien bedecken muss. Wie sie die Zellen mit Liedern der Eagles beschallen, unerträglich laut. Wie sie das Wasser abstellen, damit die Gefangenen sich vor dem Gebet in der Toilette waschen müssen. „Manchmal", schreibt Amir, „höre ich auf, mich zu fragen, ob sie menschliche Wesen sind."

Bumgarner und sein General spüren einen nie dagewesenen Widerstand, eine nie dagewesene Entschlossenheit. Ein Hungerstreik beginnt nach der Definition des Pentagon, wenn ein Gefangener neun Mahlzeiten hintereinander ablehnt. Jeder vierte Gefangene im Lager hungert nach dieser Definition. Die Befehlshaber und Wärter erreichen sie nicht mehr. Sie lösen das Problem mechanisch. Sie legen einen Zugang zu ihren Körpern.

Sahrani, Uteibi und Salami werden in die Krankenstation geführt und müssen den Kopf in den Nacken legen. Die Ärzte führen einen gelben Schlauch in ihre Nase und schieben ihn durch die Speiseröhre in den Magen. Sie beginnen mit der Zwangsernährung. Die Schläuche, hergestellt von Viasys Medsystems, Modellnummer 20-5431, sind 109 Zentimeter lang und dünn wie ein Stromkabel. Zwei- bis viermal am Tag pumpen die Ärzte eine Nährflüssigkeit durch die Schläuche.

Die Gefangenen nennen die Hungerstreikenden den „Force-Feeding Club", den Club der Zwangsernährten. In der Sprache des Pentagon existiert der Begriff der Zwangsernährung nicht. Es bezeichnet die Sitzungen in der Krankenstation als „re-feeding".

Während in der Krankenstation eine Lösung aus Dextrose mit Kaliumchlorid, Magnesiumsulfat und Folsäure in den Magen der Hungerstreikenden läuft, haben die folgsamen Gefangenen einen neuen Geschmack in ihrem Mund. Ihr Speiseplan wird um Müsliriegel und Gatorade erweitert. Der Mittwoch endet für sie jetzt mit dem Pizza-Abend. Sie wünschen sich Pepsi dazu. Coca-Cola lehnen sie ab.

Einige der Hungerstreikenden verlieren schnell an Gewicht. Sie sind trotz der Zwangsernährungen stark unterernährt,

weil sie nach den Sitzungen einen Finger in ihren Rachen stecken und sich übergeben. Ein paar von ihnen kehren die Methoden des Pentagon um. Sie saugen ihren Magen mit demselben Schlauch leer, durch den die Nährflüssigkeit in sie hineinfloss.

Das Pentagon fliegt „restraint chairs“ ein, rollende Stühle, in denen Kopf, Arme und Beine der Gefangenen verzurrt werden. Die Hungerstreikenden bleiben so lange in den Stühlen fixiert, bis sie ihre Nahrung verdaut haben. Der amerikanische Hersteller wirbt für die Stühle mit dem Slogan: „Es ist wie eine gepolsterte Zelle auf Rädern."

Im Frühjahr 2006 sind außer Sahrani, Uteibi, Salami und Amir nur noch wenige Gefangene im Hungerstreik. Einige von ihnen sind so schwach, dass sie Gehhilfen brauchen. Die Wege zwischen den Gebäuden in Camp Echo werden betoniert, damit die Wärter sie in Rollstühlen durch das Camp schieben können. „Sie haben keine Hoffnung in ihren Augen", sagt ein Offizier zu Amir. „Sie sind Geister, und sie wollen sterben."

Ende April teilt das Justizministerium den Anwälten Daly und Davis mit, dass Uteibi nach Saudi-Arabien ausgeflogen werden soll. Mitte Mai, acht Monate nachdem er Uteibis Verteidigung übernahm, darf Daly in Fort Lauderdale in eine Propellermaschine steigen und zu seinem Mandanten nach Guantanamo fliegen. Das Justizministerium verbietet ihm, Uteibi zu sagen, dass er bald entlassen wird. Doch Daly darf ihn fragen, ob er zurück nach Saudi-Arabien möchte, und er hofft, dass Uteibi die Botschaft versteht.

In Washington findet David Engelhardt eine DVD in seiner Post. Salamis Vater hat im Jemen ein Video aufgenommen, in dem er seinen Sohn bittet, den Anwälten zu vertrauen. Engelhardt ist bereit, er wartet nur noch auf die Genehmigung, Salami zu besuchen.

Als Daly mit einem Übersetzer in Guantanamo landet, teilt ein Offizier ihm mit, dass Uteibi ihn nicht sehen wolle. Daly ist ratlos, und der Übersetzer schlägt vor, Uteibi eine Nachricht zu schicken. „Bitte triff dich mit uns", schreibt er auf einen Zettel. Zwei Tage wartet Daly darauf, seinen Mandanten sehen zu dürfen. Doch Uteibi kommt nicht. Vielleicht will er keinen Anwalt. Vielleicht weiß er nicht, dass er einen Anwalt hat. Vielleicht sagen die Wärter ihm nur, dass er eine „Verabredung“ hat. Sie sagen das auch vor den Verhören.

Daly verlässt Guantanamo, ohne Uteibi gesehen zu haben.

Einen Tag nach Dalys Abreise finden die Wärter in Camp 1 einen Gefangenen ohnmächtig in seiner Zelle. Er hat Schaum vor dem Mund. Sie rufen „Schneeball“ in ihre Funkgeräte, das Codewort für einen Selbstmordversuch. Bei fünf Gefangenen stellen Ärzte später fest, dass sie Schlaftabletten und Pillen gegen Psychose schluckten, die sie gesammelt hatten. Alle fünf überleben.

Als die Wärter am selben Nachmittag in anderen Zellenblöcken nach Medikamenten suchen, auch in den Koranen, bricht in Camp 4, dem Block der in Weiß gekleideten folgsamen Gefangenen, eine Revolte aus. Ein Gefangener täuscht vor, sich erhängen zu wollen, und lockt die Wärter in einen Teil des Camps, wo sie angegriffen werden. Die Wärter schießen mit Gummimunition auf die Gefangenen und beenden den Aufstand. Sie glauben, dass es vorbei ist.

Am 9. Juni, kurz vor Mitternacht, ziehen sich Sahrani, Uteibi und Salami in den hinteren Teil ihrer Zellen zurück. Sie binden Schlingen aus zerrissenen Laken und Kleidungsstücken zusammen. Das Licht ist ausgeschaltet, doch sie müssen sich beeilen. Sie wissen, dass die Wärter alle drei Minuten den Block kontrollieren sollen.

Sie legen Kleidungsstücke unter ihre Decken, die aussehen wie schlafende Körper. Vor die Waschbecken hängen sie Decken, die verhüllen, was dahinter geschieht. Sie binden die Schlingen an der Gitterwand fest und stopfen Stoffballen in ihren Mund, vielleicht, um ihre Schreie zu dämpfen, vielleicht, um sich zu ersticken. Sie steigen auf die Waschbecken und legen die Schlingen um ihren Hals.

Dann springen sie.

Kurz nach Mitternacht entdecken die Wärter die Toten. Sie hängen an der Zellenwand wie der Koran.

Guantanamo wird ein anderer Ort in dieser Nacht, ein Schlachtfeld. Konteradmiral Harry Harris, der Kommandant des Lagers, tritt vor die Presse und bezeichnet die Selbstmorde als „einen Akt asymmetrischer Kriegsführung". Eine Sprecherin des Außenministeriums nennt sie „eine gute PR-Aktion". In Guantanamo hält Colonel Bumgarner ein Stück Schweinefleisch hoch und sagt: „Zu Ehren unserer drei toten Brüder". Dann beißt er hinein.

Das Pentagon überlegt, die Toten in Guantanamo zu begraben. Dann gibt es sie frei. Die Leichen der Gefangenen Nummer 093, 588 und 693 werden seziert und in Zinksärgen in ihre Heimat geflogen. Die Protokolle der Obduktion werden nie veröffentlicht.

In einem Krankenhaus in Riad hebt sich ein weißes Laken, und Talal al-Sahrani sieht ein Gesicht, das ihn an sein eigenes erinnert. Der Vater nimmt sein Mobiltelefon und macht das letzte Bild seines Sohnes.